Dr.  Manfred  Krill  Verlag FÜR PSYCHOANALYSE

HAINERBERGWEG 53, D-61462 KÖNIGSTEIN IM TAUNUS

Telefon 06174-23660

Inh.: Dr. med. Manfred Krill


 

 

Friedrich Hölderlin (1770-1843)

Eine Pathographie

 

von Manfred Krill

 

 

 

 

Die Linien der Menschen sind verschieden…

(Hölderlin 1812)

 

ISBN 978-3-9818213-2-1

Verlag Dr. Manfred Krill für Psychoanalyse

 

 

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;

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Originalausgabe

 

(C) 2020 Dr. Manfred Krill Verlag für Psychoanalyse, Hainerbergweg 53, D-61462 Königstein

Satz: Dr. Manfred Krill (Autor), Königstein

Druck: Dr. Manfred Krill

Ungebunden

Schrift: Garamond und Arial

Das Urheberrecht: liegt ausschließlich bei Dr. Manfred Krill. Alle Rechte sind vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert, übersetzt oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

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Printed in Germany, 1. Auflage

ISBN 978-3-9818213-2-1   Verlag ISBN 978-3-9815177

 

Umschlagbild und Umschlaggestaltung (Deckblatt): „Die Linien der Menschen sind verschieden“ Acryl auf Karton, von Manfred Krill 1995. Es mag die Ausweglosigkeit in Hölderlins Verfassung, seine innere Gespaltenheit, seine Originalität und sein Streben nach der hohen Kunst der Dichtung veranschaulichen.

Buchrückseite: „Dem Hölderlin sein Turm“, Öl auf Leinwand, Edgar Krill Mai 2020

 

Autor: Dr. Manfred Krill, Facharzt für Neurologie und Psychiatrie, Psychoanalyse, Psychotherapie

Hainerbergweg 53, 61462 Königstein

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Vorwort und Danksagung

Dass ich dieses Buch schrieb, ist meiner Neugier auf die umfassende und glänzend verfasste, auch die bisherige Literatur einschließende Pathobiographie von

Ingeborg Joppien

über den Dichter zu verdanken. Ich schrieb sofort eine Rezension zu diesem Buch. Dabei besann ich mich auf meine gründliche psychiatrische Ausbildung, die ich in der Freiburger Psychiatrischen Klinik von den Professoren Ruffin,  Goeppert,  Bister und Blankenburg) erfahren hatte.  Da lag es dann nahe, eine Pathographie über Hölderlin zu schreiben, was mir in kürzester Zeit auch gelang. Zugleich entdeckte ich auch zwei Gemälde, die mir zu Hölderlin und meinen Auffassungen über ihn zu passen schienen.

Königstein, im Mai 2020

 

 

 

 

 

 

Hölderlins (1770-1843) schizophrene Erkrankung

 

Von Manfred Krill

 

Meinen Kindern

 

 

Literatur:

Bertaux / Paris, Friedrich Hölderlin, Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main, 1978, 730 Seiten

Blankenburg, Wolfgang, Prof. Dr.med., Der Verlust der natürlichen Selbstverständlichkeit, Kindle 2002, Parodos 2012

Joppien, Ingeborg, Friedrich Hölderlin, eine Psychobiographie , Kohlhammer Stuttgart 1998, 230 Seiten

Huber, G./Lübeck, Hrsg: Therapie. Rehabilitation und Prävention schizophrener Erkrankungen, F.K: Schattauer Verlag Stuttgart, New York 1978, unter Mitwirkung von Angst, Berner / Wien, M. Bleuler/ Zürich, Fukuda, Gabriel, Glatzel/Mainz, Gross, Haase, Häfner, Heinrich, Hirota, Huber, Janzarik, Jida, Kinzler, Klinke, Küfferle, Marneros, Matussek, Miyazaki, Ch. Müller/ Lausanne, Müller. P.O./ Weinsberg Müller, U./ Düsseldorf, Reimer, Schelling, Schüttler, Süllwold, Tegeler, Willis Wing, Woggon u.a.

Schneider, Kurt, Klinische Psychopathologie, Thieme Stuttgart, 1962

 

 

 

 

Die Frage nach der Art der rätselhaften Erkrankung Hölderlins hat in der Vergangenheit zahlreiche Gelehrte beschäftigt, bislang ohne eindeutiges Ergebnis.

Die gründliche Kenntnis der o.a. umfangreichen Literatur wird für das Folgende vorausgesetzt, um sie nicht noch mehr anschwellen zu lassen

Bertaux, im Folgenden B, war ein französischer Germanist, hoher Polizeioffizier und Diplomat. Er war offensichtlich nicht mit der damals weltbedeutenden, sogar führenden, deutsch- japanischen Psychiatrie vertraut.

B möchte die psychischen Auffälligkeiten Hs auf widrige Umstände zurückführen, namentlich auch auf die zwangsweise Verbringung in die psychiatrische Klinik Tübingen und den siebenmonatigen Aufenthalt dort.

Aber B weiß nicht, dass auch schlimmste Umstände, wie sie im KZ vorlagen, keine Schizophrenie erzeugt haben (Zerbin- Rüdin, s.u.), während andere, von außen gesehen bagatellhafte und deshalb nicht näher bestimmbare Umstände sehr wohl eine Schizophrenie ausklinken können. B macht auch geltend, dass H zu den Zeiten, in denen er als krank angesehen und bezeichnet wird, besonders produktiv war, so, wie auch Sinclair beschreibe, das Gedicht Patmos verfasst habe (B 108).

Da ihn so viele Personen geliebt haben, muss er ebenfalls nicht ganz ohne Wärme gewesen sein, er muss Wärme ausgestrahlt haben (Verf.). (B 107 Sinclair…  „wiewohl er viele hat, die ihn von Herzen lieben und verehren“).

Der Entwurf eines Briefs von 1802 an seinen Freund Böhlendorff (S 108 ff, Dok. 11) zeigt aber eine katastrophale Denkzerfahrenheit, und dies an mehreren Stellen (Verf.). Selbst das bloße Abschreiben dieses Briefes wäre sehr mühevoll. Seine Sprache ist regelrecht zerborsten, zerrüttet und verstörend. Treffend wurde deshalb sein Geisteszustand verschiedentlich, auch von seiner Mutter, als „zerrüttet“ bezeichnet. Dies muss demnach auch etwas grundsätzlich anderes sein als z.B. das bloß inkohärente Denken in der Altersdemenz. Neurologisch-spekulativ ist eher an eine aktive Unterbrechung von laufenden Vorgängen zu vermuten oder ein Zerhacken bis in Einzelbruchstücke.

Dies ist auch nicht dadurch aus der Welt zu schaffen, dass es sich nur um einen Entwurf handelt und H sich mit Böhlendorff in einem besonders tiefen Sinne gut verstanden habe (so B 107 ff). Diese Art von Privatsprache (nach B nur „Winke“, „Sprache der Götter“) ist desungeachtet schizophren. Man kann auch in Entwürfen denkzerfahren sein, - dies hat B nicht erkannt. Warum sollte es Denkzerfahrenheit nur in fertigen Briefen geben? Denn auch ein Entwurf ist ein psychisches Produkt im Wachsein, nicht im Traum. Man kann ja nicht träumen und gleichzeitig schreiben. Ein Wortsalat ist es nicht, aber doch eine schwerste Denkstörung.

Bei der gleichzeitig mit dem Fadenverlieren einsetzenden „vollkommenen Geistesabwesenheit“ mitten in einer Antwort Hs, die Schelling beobachtete (B 116), dürfte es sich um ein Gedankenabreißen, eine Gedankensperrung oder auch Gedankenentzug gehandelt haben, und auch gleichzeitige akustische Halluzinationen können das Fadenverlieren ausgelöst haben.

Diese konnten es H geraten sein lassen, besser zu schweigen. Die dadurch bedingte Kontaktbehinderung ist verheerend.

B bagatellisiert hier, wenn er meint, H sei da eben „mit seinen Gedanken woanders“ gewesen. Innerhalb seiner Antwort, und dies ist das Entscheidende, wünschte H zweifellos, weiterzusprechen, konnte dies aber nicht, weil er momentan keine Gedanken mehr hatte (B 189- 191: „es fällt ihm etwas ein…“, „statt einem Faden…so viele durcheinander und verlieren sich… in einem wüsten Gespinst…unfähig, seine dunstigen, aufgestiegenen Geistesblasen… (ohne) Konsistenz.. Konfusion . .  redet Unsinn “). Dies muss Schelling aufgefallen sein. Eine bloße Unterbrechung der Rede hätte Schelling nicht so bewertet, wie er es tat. In einem Gespräch spürt der Partner genau, dass der Andere gezielt weitersprechen möchte, aber nicht kann, und dass mit dem „Fadenverlieren“ ein Unterschied besteht zu einer neurotischen Hemmung, etwa aus Angst, und ein Unterschied auch zu einer bloßen Zerstreutheit im Alltagsleben oder zu einer Altersdemenz.

Es ist ein schweres Symptom, das dem Gesprächspartner sehr unangenehm auffällt. Die Reaktion der Umgebung ist daher durchaus mit zu bewerten. Sie ist keineswegs einfach als eine falsche Meinung oder ein Vorurteil abzutun, wenn sich dieser Eindruck in der Außenwelt wiederholt. Sie ist vielmehr eine Reaktion auf das Bizarre und Fremdartige dieser Gedankenabbrüche und Ausdruck der Angst, hierin verwickelt zu werden.

Gibt es Vorgefasstheit, dass es sich um einen „Irren“ handele, so gibt es auch die Vorgefasstheit, dass keine Schizophrenie vorliege.

B strengt sich sehr an, zu sehr, und greift zu Ausflüchten. Dass H sich mit Böhlendorff besonders gut verstand, ist ein gesuchtes Argument, nahe an Rechthaberei.

Wenn ein Pat. sich gut mit seinem Psychiater versteht, befreit dies nicht von der Feststellung einer Denkstörung. Auch die „Sprache der Götter“ ist nicht denkgestört, dies übersieht B.

Vieles ist den Göttern in den Mund gelegt worden, aber nirgendwo ist darin eine Denkstörung erkennbar gewesen noch hat jemals jemand solches behauptet.- Die Götter haben keinen Persilschein für Denkzerfahrenheit, - wer soll ihn wann ausgestellt haben?

Eine offensichtliche Denkstörung, hier bis zur Verworrenheit, bis zum Faseln, ist auch im Brief an Prinzessin Auguste von Homburg erkennbar: „…habe ich… das Geschäft (er meint seine Beschäftigung als Bibliothekar) gewählt, „weil es .. in festen und historischen Gesetzen…gebunden ist“), - ein verstiegener Neologismus außerdem. Seine Bezeichnung für die Sprache des Aischylos („Kamalattasprache“) oder, „ich heiße Killalusimeno“ B 192) mag gerade noch einen rationalen Sinn auf Griechisch haben (B 200- 201), aber diese Deutung wirkt doch sehr gesucht, nämlich i.S. einer Intellektualisierung und Rationalisierung, einer nachträglichen, in der Sache unzutreffenden Begründung. Mindestens zeigt diese Privatsprache eine schwere Kontaktstörung.

Auch dass H traurig war, wenn er sich nicht verstanden fühlte (B 113), ist kein Argument gegen das Vorliegen einer Denkstörung. Hier und nicht nur hier entsteht der Eindruck, dass B von der eigentlichen Frage ablenken möchte. Bei der Frage einer Denkstörung geht es nicht darum, ob sich jemand gut verstanden oder traurig fühlt. Vielmehr „verliert H den Faden“ (1803, B 115).

Die Denkstörung zeigt sich auch in der Begegnung mit Waiblinger, Wurm (B 176-177) und Haug (B 181), wo H schon zuvor, durch die Tür hörbar, mit lauten Selbstgesprächen befasst ist, dann in endlosen Anredeformalitäten („ Eure Majestät“, Eure Heiligkeit“ B 185, 188. 191, auch Anreden in der dritten Person, so B 212) etc., zugleich wegen der damit verbundene Selbsterhöhung auch Zeichen eines Größenwahns, der durch seine Leistungen nur verdeckt wurde), anlass- und grundlosen „ Komplimenten und unverständlichen Antworten“, „ Schwall von Worten, die alle ohne Sinn sind“, „fürchterlich kunterbunter sinnloser Wortschwall“ teils die Sprache wechselnd (unvermittelt französisch sprechend, ohne erkennbare Motivation dazu) sich verheddert.

Er verhält sich vielfach bizarr, so verneigt er sich immer wieder tief, übermäßig tief vor den so Angeredeten. Er bezeichnet sich auch, unterschreibt auch als „Scardanelli“ (B 204).

Diese Unterbrechung der Kontinuität seiner Person muss ebenfalls als Denkstörung angesehen werden. Ähnlich: „..die Gedichte sind von mir, aber ich habe nie Hölderlin geheißen…“ B 221)

Während die Denkstörung klar darzustellen ist, verhält es sich mit der im Affektiven liegenden Minussymptomatik (s.u.) anders, sie ist schwer festzumachen, maßgeblich sind hier Befindlichkeiten und Eindrücke.

Mit einem sicheren und zugleich einfachen Test, erlernt von meinem Lehrer in Psychiatrie, Herrn Prof. W. Blankenburg, lassen sich heute selbst geringste Denkstörungen (bei normaler Intelligenz) nachweisen. Der Patient soll hierzu ein paar textlose  Bildergeschichten von Erich Ohser („Vater & Sohn“) zu verstehen suchen. Der Test ist sehr zuverlässig. Es geht hier immer um einen verborgenen Kniff in einer ganz harmlos aussehenden Bilderfolge, die aber doch einiges Denkvermögen erfordert.

 

Außerdem wird Grimassieren („konvulsivische Bewegungen durch das ganze Gesicht“) beschrieben, sowie andere Bewegungsstörungen („krankhafte Manieren“, „Heben der Schultern, Zucken der Hände und Finger“ (B 180- 181, 183).

Auch aus späterer Zeit (1825-1830) ist „Zusammenhangslosigkeit des Denkens“ sicher überliefert (B 219). Die Besucher ziehen sich jeweils rasch zurück. B erkennt dies alles nicht als krankhaft und geht nicht auf diese Begegnungen ein. Draußen schlägt H mit seinem Taschentuch auf Zaunpfähle ein und rupft Gras aus (B 182). Danach muss er angehalten werden, sich die Hände zu waschen (B 182). Auch wirft er mit Steinen und Kot nach Anderen, wenn er von diesen verspottet wird (B 183). Schwab erlebte seinen Blick als „wächsern, dass ihm schauerte“ (B 210)

Seine Sophokles-Übersetzungen seien, so Schelling, Zeichen eines verkommenen geistigen Zustandes (B 116, Dok. 12).

Auch die „Vernachlässigung seines Äußeren bis zum Ekelhaften“, (1803, B 114) ist, wenn keine Trotzreaktion, etwa in der Pubertät, vorliegt, erfahrungsgemäß ein ziemlich sicheres Zeichen für eine schizophrene Psychose, wenn sie auch nicht zu den Symptomen ersten Ranges nach Kurt Schneider zählt, sondern zum nicht näher erklärbarem Verlust automatisierter Fertigkeiten, zum Automatismenverlust.

Sie gehört auch zu den Symptomen der Gleichgültigkeit („Indifferenz“), der mangelnden Stellungnahme und zum Mangel an Bezug zur Umgebung, auch der mangelnden Selbstwahrnehmung und der psychischen Verlangsamung, die wegen der ständig interferierenden Gedanken und Gefühle eingetreten ist.

Die Vernachlässigung seines körperlichen Aussehens bis zum Ekelhaften hat auch die Bedeutung einer primären („intrinsic“) Behinderung angenommen, welche nicht durch äußere Faktoren entstanden ist, sondern durch innere, daher auch schwer von außen zu beeinflussen ist.

Sie macht das Beenden der Unterbringung bei Zimmer und eine Wiedereingliederung in die Gesellschaft mit selbständiger Lebensführung unmöglich, ebenso wie etwa Denkstörung, Wahn, Wahnstimmung, Wahneinfälle, Grimassieren, katatone Symptome oder auffällige akustische Halluzinationen.

Immer wieder werden Hs Schwermut, Melancholie, Traurigkeit, Niedergeschlagenheit (so B 123) genannt.

Depression ist ein wichtiges Begleitsymptom einer schizophrenen Psychose, zumal der Erkrankte unter seiner Adynamie, seiner mangelnden Durchhaltekraft, seiner Verlangsamung, seiner Denkstörung und seiner Kontaktstörung leidet.

Nicht überliefert sind so wichtige Symptome wie Gedanken-ausbreitung, Gedankenentzug, Gedankenabbruch, Sperrung,  Gedankendrängen, Gedankeneingebung, Gedankensteuerung von außen oder der spezifische Typ von akustischen Halluzinationen in Form von Begleitstimmen, die nur etwas kommentieren, vor allem eigene Handlungen (Kommentarstimmen), oder coenästhetische (Leibgefühlsstörungen) (sensorische) Halluzinationen, etwa aus dem Bein, dem Arm oder aus dem Leib, etwa als Bestrahlung oder hypnotische Beeinflussung erlebt, und auch nicht die geradezu pathognomonischen Geruchs- und Geschmackshalluzinationen  (olfaktorische, gustatorische) , die freilich in den meisten Fällen erst erfragt werden müssen, aber auch heute selbst von Psychiatern selten erfragt werden, weil sie vergessen sind, stupuröse Symptome oder andere schwere katatone Symptome wie Verharren in bizarren Positionen oder athetoide oder choreatiforme Bewegungsstörungen, auch nicht andere Erlebnisse des „Gemachten“, des  „Gemachtwerdens“, auch in der Außenwelt. H dürfte gelernt haben, solche Symptome besser nicht zu äußern.

 

Möglich ist, dass H anlässlich seiner kurzdauernden Verhaftung wegen Teilnahme an einer Verschwörung gegen den Landesherrn und der drohenden Einkerkerung auf dem Hohenasperg, wie es Schubart geschehen war, versucht hat, eine Geisteskrankheit zu simulieren, wie Hamlet. Shakespeares „Hamlet“ hatte er zuvor in der Übersetzung von Schlegel gelesen.

Simulation kann aber nur die Jahre 1804 und 1805 betreffen. Und es ist daran zu erinnern, dass eine schizophrene Erkrankung nicht wirklich vorgetäuscht werden kann. Das Wesentliche ist nämlich, dass die Einzelsymptome wie auch die Ausdrucksstörungen, die Verhaltensauffälligkeiten und die verbalen Äußerungen von einem schwer beschreibbaren „sozialen Unvermögen“ begleitet werden (Wing in Huber, 14), welches Im Gegenüber oft das sog. Praecoxgefühl (Bunke 1911), auslöst.

 Auch Darstellungen einer schizophrenen Erkrankung in den Medien, besonders auffällig in Film und Theater, misslingen kläglich, was freilich nicht vom sachunkundigen Publikum bemerkt wird.

Eine schizophrene Psychose wird namentlich in Filmen gewöhnlich so dargestellt, wie Klein-Hänschen sich eine Verrücktheit vorstellt (naive, sensationshungrige Position, die Kamera wackelt wild hin und her), und so, wie ein Regisseur sein Publikum zu beeindrucken glaubt, dies noch gern mit einer Prise Sexualität, um zu zeigen, wie freudbewandert er ist (narzisstische, manipulative Position).

Auch Schriftsteller greifen in barer Unkenntnis und Überheblichkeit regelmäßig daneben, so Martin Walser, wenn er meint, man könne diese schwere Erkrankung „mit Liebe“ heilen. Solche Naivität ist nur möglich, wenn man nie eine schizophrene Psychose gesehen hat.

Wohl können einzelne Symptome grob nachgeahmt werden, nicht aber die Denkstörung und das eigenartige Praecoxgefühl als Reaktion auf das soziale Unvermögen (Bumke 1911), das  - vorwissenschaftlich -„als Anmutung“ (nach K. Schneider 1962 „ein Erfassen aus der Beziehung“), im Gegenüber, wenn auch nach meiner Erfahrung nicht in jedem Fall, schon vor einem verbalen Kontakt aufkommt, und vielfach unterstellt werden kann, da seine Gesprächspartner offenbar sämtlich das eigenartig Fremdartige der schizophrenen Grundstörung gespürt haben, das so schwer beschreibbar ist. Hier hat nicht etwa eine vox populi ein Irresein behauptet.

Es ist auch nie gelungen, eine schizophrene Psychose (sog. Modellpsychosen) tierexperimentell zu erzeugen, - etwa, um pharmaklogische Studien betreiben zu können, - i. Ggs. zu Alkohol-, Amphetamin-, Reserpin-, Cannabis - oder epileptischen Psychosen. Die Katastrophe einer schizophrenen Psychose, besonders deren Minussymptomatik, scheint auf den Menschen beschränkt zu sein.

Eine Dopaminstoffwechselstörung ist nachgewiesen.

Die sog. Plussymptome lassen sich heute pharmakologisch gut behandeln, kaum bis umstritten aber ausgerechnet nicht die Minussymptome (die als körpernahe Basissymptome aufgefasst werden, aber ausgerechnet auf eine körperliche Therapie- durch Neuroleptika- nicht reagieren, was sehr merkwürdig ist).

Die Minussymptome, namentlich die Rückzugstendenz, sind auch möglicherweise Bewältigungs-Versuche anderer Störungen, besonders wohl der Denkstörung), so die Antriebsarmut, die verminderte Spannkraft, die globale psychophysische vitale Baisse (Glatzel/Marneros in Huber 64), die Spracharmut (Sprachverarmung), die Verlangsamung, die Aktivitätsminderung, Einbuße an Initiative, der Mangel an verbalen und nichtverbalen Fertigkeiten (wie Zähneputzen, Sichanziehen, das Haus verlassen), die Ausdrucks-Armut, diese auch in der Körperhaltung, im Gesichtsausdruck, im Gang, in der Gebärde, in der Stimmmodulation, der Kontaktmangel, sozialer Rückzug, Gleichgültigkeit, mangelnde Stellungnahme zu widersprüchlichem Verhalten und zu den Halluzinationen, läppisches Verhalten, flache Affekte bis zur Indifferenz, unbegründetes Lachen, eigenartige Kontaktbehinderung, vermehrte Neigung zu Rezidiven auch bei Ereignissen, die gar keine Bedeutung haben für den Kranken, also auf Alltagsereignisse, auf irgendwelche, kaum erfassbare Änderungen des sozialen Umfelds (Huber 59), also sehr empfindlich, er balanciert ständig auf einem Drahtseil (Huber 60), es kann auch zu bloß minutenlangen paroxysmalen schizophrenen Syndromen kommen (Glatzel/Marneros in Huber 62), -  dies alles i. Ggs. zu Depressiven, die nur auf Ereignisse, die für sie eine Bedeutung haben, depressiv reagieren, die also weit weniger empfindlich sind.

Aus dem stationären Aufenthalt in der Klinik Autenrieth ab 11.9.1806 lassen sich keine Schlüsse auf das Vorliegen einer Schizophrenie ziehen. Der Einsatz von Belladonna (Atropin) und stark reizendem Kantharidin (dies auch zu einer sexuellen Anregung) kann gegen einen schizophrenen katatonen Stupor oder einen psychoreaktiven Stupor (durch seine Angst vor Verhaftung, seinen zwangsweisen Transport, seinen Zwangsaufenthalt und seine Zwangsbehandlung in der Klinik) gerichtet gewesen sein. Der Stupor selbst ist jedoch nicht beschrieben. Anderes war offensichtlich zur Beruhigung gedacht, wie Opium, weinsaures (Kupfer-sulfat?) Vitriol („tartrisches Vitriol“), Anis, Kamille, Aloe und Quecksilber (Laxantia, wohl zur Ausleitung vermuteter schädlicher Stoffe aus dem Körper, nach den damals wie auch heute noch üblichen Auffassungen von nützlicher Entgiftung, von Expurgation), ferner Digitalis, wohl zur Beruhigung (gegen seine Wutausbrüche) durch die Vaguswirkung und die Pulsverminderung, und zur verbesserten Herzarbeit. Belladonna mag auch gegen Kollapsneigung und Hypersekretion (hat H vor Wut „geschäumt“?) eingesetzt worden sein (für alle hier genannten Substanzen: Fritz Eichholtz, Lehrbuch der Pharmakologie 1957 Springerverlag, Berlin, Göttingen, Heidelberg).

Ob eine Zwangsjacke und eine Schreimaske angelegt wurden, ist nicht sicher, doch liegt eine Rechnung über eine Schreimaske vor, als Ersatz für eine wohl von H verbrauchte. Auch ließ H dann vom Schreien ab,- nach dieser frühen Art der Verhaltenstherapie durch bloße Maßnahmen.

Nach 7 Monaten, am 3.5.1807, wurde H, zeitweise war es noch „schlimmer“ (Zimmer) mit ihm, ohne Besserung entlassen und von Zimmer, einem vernünftigen und gebildeten Schreiner, der ihn anlässlich seiner Arbeiten in der Klinik kannte, im Turm zur Pflege aufgenommen, wo er bis zu seinem Tode am 7.6.1843 noch 36 Jahre verblieb. Zimmer sprach täglich mit ihm. Er verstarb schon 1836. Für die restlichen 7 J. übernahm seine Tochter Lotte die Pflege.

Im Großen und Ganzen lebte H mit Abstrichen so unauffällig, dass man sich fragt, warum er noch so lange Zeit in Pflege sein musste.

Es kann sein, dass er sich selbständiges Leben nicht mehr zutraute oder, und dies wiegt schwerer, auch nicht mehr das Bedürfnis dazu hatte. Vielleicht war es mittlerweile nur „die Macht der Gewohnheit“.

Psychiatrisch entspricht dies einem Hospitalisierungseffekt durch die Dauerunterbringung mit Totalversorgung bei Zimmer. Es war damit ein dauerhaftes soziales Unvermögen verbunden, das vielleicht durch sozial-psychiatrische Behandlungstechniken, an denen es aber damals fehlen musste, noch zu bessern gewesen wäre.

Auch eine letztlich biologische, angelegte Ursache (Zerbin-Rüdin) für seine Schizophrenie ist nicht von der Hand zu weisen, mit der beschriebenen Defektbildung und der weitgehenden Unbeeinflussbarkeit von außen. Nach Zerbin-Rüdin, die heute totgeschwiegen wird, erkranken immerhin 40-60 % der Kinder an Schizophrenie, wenn beide leiblichen Eltern diese Krankheit aufweisen. Bei nur einem erkrankten Elternteil ist die Manifestation bei den Kindern gering.

Er war verschiedentlich nachts unruhig (S. 162) und zeigte weiterhin Wutanfälle bei geringfügigen Anlässen, schlug mit der Faust auf den Tisch, offenbar, wenn er Stimmen hörte, verprügelte die bei Zimmer Arbeitenden, wie B mehrfach nachweist.

Anscheinend ist es durch seine Psychose zu einem schizophrenen Residuum („Defekt“, „Defizienzpsychose“, „unproduktivem, evtl. „postpsychotischem ,asthenischem Basistadium“ ((Huber 1964)), zu „Potentialreduktion“ ((Conrad)), „dynamischer Entleerung“ ((Janzarik)), „Leistungsknick“, „Grundstörung“((Bleuler)), „reinem Residualsyndrom“, vorauslaufend und nach Ende des produktiven Stadiums einer Schizophrenie ((L.Süllwold)), in Form einer chronischen Minussymptomatik mit Sistieren der produktiven Symptomatik und der Denkstörung gekommen, aber mit affektiver Verflachung (diese reicht bereits, um von der Umgebung als schwer geisteskrank erlebt zu werden) , Antriebslosigkeit, zentral-vegetativen Symptomen (Huber 89), Aktivitätsminderung, Einbuße an Initiative, Kontaktmangel, Verlangsamung (aber andere Ermüdungskurve als bei den Hirnorganikern, bei Schizophrenen kein Abfall der Leistung gemäß der Dauer der Belastung wie etwa bei der Altersdemenz, -der Schizophrene verbessert sich in seinen Reaktionen und Leistungen mit zunehmender Belastungsdauer, das Gespräch mit ihm verläuft nach 2 Stunden flüssiger und klarer (Zlatnikova in Huber 154, 156), gestörter Selektion von Bedeutungen mit umwegiger Informationsverarbeitung und ständig eindringenden Nebenassoziationen mit der Folge enormer Verlangsamung und des Verlustes automatisierter Fertigkeiten wie der Körperpflege (W. Blankenburg, Der Verlust der natürlichen Selbstverständlichkeit, 2002) sowie Ausweichen vor Gesprächen und Vermeidung von Lesen, Sprechen, Betrachten und des Aus-dem- Hause- Gehens (Süllwold in Huber 143- 146), sozialem Rückzug in die Sicherheit bei Zimmer, Empfindlichkeit, Reizbarkeit, bizarrem Verhalten (so den endlosen Anredeformalitäten wie „Euer Majestät, Euer Gnaden“ etc.), mangelndem Durchhaltevermögen, mangelnder Entschlusskraft und einer gewissen Versandung, Unruhe, Wutanfällen, diese charakteristischerweise besonders, wenn ihm gewisse Personen, so aus der Klinikzeit oder Verwandte (S.167), zu nahe kamen oder wenn von diesen zu sehr die Rede war.

„Plus“ und „Minus“ sind m.E. nicht nur didaktische Begriffe.

Auf die Unterscheidung „wissenschaftlicher“ und „kennerschaft- licher“ Nachweis (Conrad, zit n. Huber 70) kann hier nicht eingegangen werden. Sie beleuchtet immerhin die außerordentlichen Schwierigkeiten in der Psychoseforschung.

H war situativ durchaus mitzureißen, z.B. konnte er mit den Studenten, die bei Zimmer wohnten, gerne mitsingen oder bei einem gespielten Walzer tanzen (S. 165), oder konnte auch nach Aufforderung Zimmers ein großartiges Gedicht innerhalb von 12 Minuten (S. 167,170), im Alter von 65 Jahren schreiben. Auch sind vereinzelte andere poetische Produktionen, so von 1811 und 1826 (B 218), erhalten geblieben. Auch war er affektiv wohl noch zeitweise erhalten („reiches, tiefes, edles Gemüt“, Zimmer, B 166-167, „ungeheure Phantasie“ ((B 166)). Zimmer mag ihn aber auch idealisiert haben, wie schon in der Zeit, als er H als Schreiner in der Klinik kennengelernt und bewundert hatte.

„Defekt“; ähnlich „reiner Defekt“, „reines Residuum“ (Huber), „Strukturverformungen mit Psychose, typisch schizophrene Defektpsychose, Defizienzsyndrom“, „Basisstörung“ u. ä.  sind recht unbestimmte Begriffe, sie betreffen keineswegs nur die Denkstörung, sondern die gesamte Persönlichkeit. Sie erweisen sich fast immer als beständig (Huber 111), können aber auch von Minute zu Minute fluktuieren. Dem dürften flüchtige zerebrale neurobiochemische Störungen entsprechen (Süllwold, in Huber 155). Als Kern der Beobachtung gelten das Uneinfühlbare und Wahnhafte.

In summa bleibt aber die Tatsache bestehen und wirksam, dass Hs Umgebung bei Zimmern reizarm war und schon deshalb keine gute Therapie für ihn sein konnte. Andererseits hatte er jederzeit Rückzugsmöglichkeiten, die er in seiner Defizienz als Schutz vor übermäßigen Reizen, etwa anspruchsvolleren Gesprächskontakten oder anderen Konfrontationen, etwa visuellen oder akustischen, benötigte (Süllwold in Huber 149).

Die Bedingungen der Pflege dürfen einen Schizophrenen nicht überfordern, aber sie dürfen ihn auch nicht unterfordern wie hier durch die Totalversorgung, namentlich mit Wohnung, Wärme, Essen und Kleidung und täglichen Gesprächen wohl belangloser, nicht gerade herausfordernder Art. Solche Umstände mussten die Minussymptomatik verschlimmern, wie jede lange Hospitalisierung. Sie bewegen sich in Richtung „beschützend“, „overprotective, overinvolved“.

 

Es handelt sich hier um sekundäre Behinderungen, also solche, die nicht primär im Erkrankten liegen, sondern in für ihn ungünstigen Umständen, durch Übernahme von Unwertvorstellungen und durch ein unnötiges Ausmaß an Abhängigkeit, die der Kranke als ein bloßes Patientendasein akzeptiert und auf die er mit andauernder Zufriedenheit reagiert und die er nicht mehr aufgeben will, sondern bei sich selbst und durch Rückmeldung an die Umgebung verfestigt (Hospitalismus, Institutionalismus).

Die Rolle als totalversorgter Dauerpatient in einem kleinen Zimmer machte die Einnahme einer anderen Rolle mit wenigstens teilweiser Selbständigkeit, zu der er eigentlich noch in der Lage gewesen wäre, unmöglich.

Gewisse Anregungen, die H von der Familie Zimmer erhalten haben mag, konnten sich nicht gegen die Macht der Gewohnheit auf beiden Seiten durchsetzen. H geht nicht mehr einkaufen, schmiedet immer weniger Zukunftspläne, tätigt keine eigenen Einladungen, ließ sich lediglich besuchen etc. Auch der Tod von Zimmer änderte daran nichts, etwa in dem Sinne, dass nun H mehr für sich selbst gesorgt hätte. Die Versorgung geht reibungslos auf die Tochter von Zimmer über.

Es ist auch keine Bemühung von Seiten der versorgenden Familie überliefert, ihn aus seiner Rückzugsörtlichkeit zu vertreiben oder wenigstens zu irgendetwas zu ermuntern oder ein noch so kleines Risiko auf sich zu nehmen, außer der o.a. Aufforderung durch Zimmer, ein Gedicht zu schreiben.

Nie hat man gehört, dass H länger blieb als seinem Wirt lieb war, also dass Zimmers H als Zumutung empfanden.

Ein Nebenaspekt war, dass die Familie Zimmer ein Entgelt (über das sie aber genau Rechenschaft abgeben musste) erhielt, wie auch von den bis zu fünf Studenten, die dort wohnten.

Die Familie Zimmer muss andererseits auch eine wichtige, ehrenvolle und sie erfüllende Aufgabe darin gesehen haben, einen so berühmten Dichter versorgen zu dürfen.

Jedenfalls haben sie sich nie beklagt über Einschränkungen ihres Lebens durch H, obwohl sie doch solchen Einschränkungen unterlagen.

So hat Zimmer die nächtlichen Unruhezustände mit Umhergehen geduldig ertragen, aber auch umgekehrt seinen Rückzügen nicht Einhalt geboten.

Aber Vernachlässigung war damit nicht verbunden. Es herrschte gegenseitige Toleranz. Keiner drängte dem Anderen Gefühle auf.

H wurde nicht übermäßig stimuliert (Die exarzerbationsfördernde, auch suizidfördernde Wirkung von zu intensiver Zuwendung bei Schizophrenen ist erwiesen), eher zu wenig.

Die Familie ist aber auch nicht in Resignation versunken, was H ebenfalls geschadet hätte.

H hat nicht mehr versucht, seine Minussymptomatik zu überwinden, etwa ein selbstbestimmtes Leben in Selbstverfügbarkeit zu führen, - wozu er finanziell durchaus in der Lage gewesen wäre (Erbe und Tantiemen aus seinen Schriften).

Nicht einmal über Nacht hat er sein Zimmer verlassen. Nicht ein einziges Mal hat er versucht, sich eine Arbeitsstelle, etwa als Bibliothekar, wie ehedem, vermitteln zu lassen.

Eine Arbeit hätte er wohl verrichten können, allerdings nur, wenn er das dazu notwendige Durchhaltevermögen aufgewiesen hätte, was zweifelhaft erscheinen muss. Schon in seiner Stellung als Bibliothekar hatte er nicht wirklich gearbeitet, sie diente nur seiner Versorgung und seiner Bleibeberechtigung in Bad Homburg.

An sich war das Krankheitsgeschehen immerhin genügend zur Ruhe gekommen, H war nicht durchgehend von unstetem Charakter und nicht im Grundsatz kontaktfeindlich, wenn mit ihm auch zeitweise „Communikation unmöglich war“ (B 188).

H war auch nicht in anderer Hinsicht krank, etwa einer Sucht wie Alkoholismus verfallen, konnte wohl auch seiner Reinlichkeitspflege nachkommen, jedenfalls ist nichts in dieser Hinsicht bei Zimmer bekannt. Auch körperlich blieb H in einer guten körperlichen Verfassung, er konnte täglich bis zu 50 km marschieren, er litt auch nicht an einer Hirnkrankheit, wie die Obduktion ergab.

Aber der zwischenmenschliche Umgang hätte sich als schwieriger erwiesen als die Arbeit selbst, und mittlerweile wäre eine Arbeitsaufnahme oder gar ein Auszug auch einer Entwurzelung gleichgekommen.

Die Familie Zimmer hat die Distanz beibehalten, die H benötigte,- namentlich kam es auch nicht zu einer Liebesbeziehung, etwa mit der Tochter Lotte von Zimmer. Beide Seiten konnten die Intensität der Beziehung durch Rückzug regeln. Das Arrangement hielt auf beiden Seiten nicht zufällig 36 Jahre, zur allseitigen Zufriedenheit. Auch die Mutter Hs sah ihn dort gut versorgt und sich selbst von Sorgen um ihn durch dieses Arrangement weitgehend befreit. Dies alles ist nicht selbstverständlich.

Die Soziotherapie durch die Familie Zimmer hat die Krankheit nicht akut verschlimmert, aber auch nicht verbessert, sondern zu einer dauerhaften Zufriedenheit auf allen Seiten geführt. Aus Erfahrung kann man sagen, dass diese Kontakte unter 35 Std. pro Woche (in Huber S.269) zu bleiben hatten, denn sonst wäre H dekompensiert, wäre ein Schub ausgelöst worden i. S. einer Exazerbation seiner Psychose. Ein Zuviel an Zuwendung ist katastrophal für einen Schizophrenen, so etwa auch Gruppentherapie oder bei Wiederaufnahme in die Familie (Wing in Huber 1978).

Eine Dauerunterbringung in einem Spital mit deren Gefahr der Überstimulierung und übermäßigen Einschränkung, aber auch der Unterstimulierung, wurde H erspart.

Es fehlte eine Gruppe von Gleichgestellten, die schon Erfahrungen mit Hospitalismus hatte und ihm deshalb eigene Erfahrungen mit Versuchen, aus der Situation herauszukommen, Zuversicht und Initiative hätte vermitteln können.

Ich vermute, dass Hospitalismus auch einer Verminderung des Zeitgefühls Vorschub leistet, anscheinend auf beiden Seiten. Wer sich längere Zeit in einer Klinik befindet, will sie nicht mehr verlassen, und die Klinik will den Patienten nur ungern entlassen.

Auch Anhänglichkeit an das Gewohnte, Vertraute.  war hier wirksam. Selbst von deutschen Kriegsgefangenen, die in Sibirien unter erbärmlichsten Umständen lebten und sich jahrelang auf eine Heimkehr gefreut hatten, weiß man, dass sie sich nach ihrer Entlassung noch eine Weile nach dem Lagerleben und seiner relativen Geborgenheit zurücksehnten.

So kommt es bei H zu der, von außen gesehen, ungeheuren, die Zuschauer schier erschlagenden und jedenfalls höchst verwunderlichen Zeitspanne von 36 Jahren, die er bei Zimmern zubrachte.

Dies ist vielleicht H gar nicht aufgefallen, es hat ihn jedenfalls nicht gestört. Das Zeitgefühl, das Zeitgerüst entsteht in der Ontogenese erst spät und zerfällt auch am ehesten, jedenfalls bei hirnorganischen Krankheiten und wohl auch bei nicht-organischen Psychosen.

 

H erhielt zwar gelegentlich Besuche, lud aber selbst niemanden ein. Er verließ seine Behausung nur noch zu Spaziergängen in der Landschaft.

Seine Dauerunterbringung bei Zimmern hat zweifellos zu einer sog. sekundären Behinderung und zur Verstärkung bzw. Verlängerung der Minussymptomatik mit Unselbständigkeit und Initiativearmut geführt.

H hat zudem nie realisiert, dass auch die längste Versorgung einmal enden wird, - hier fehlte es ihm an Realitätssinn, i. Ggs. zu einem Neurosekranken, der genügend andere feste Objektbeziehungen hat, Vorstellungen von sich selbst in die Zukunft projizieren kann und spürt, wie die Zeit vergeht, ungeachtet seiner regressiven Wünsche nach Fortsetzung der Behandlung.

In einer ambulanten Psychotherapie entwickelt der Patient nicht eine solche Abhängigkeit, wünscht nicht die unendliche Fortsetzung einer quasi-„symbiotischen“ Beziehung (Ch. Müller).

Hölderlin aber musste bei seiner selbstbezogenen Einstellung bleiben, weil er zu mehr nicht in der Lage war (Verf. hier).

Ich sehe daher seine Distanzhaltung nicht nur als Abwehr gegen zu intensive Kontakte, sondern als ein weit grundsätzlicheres Unvermögen.

Demgegenüber erscheint die These, der Patient fürchte sich vor einer Wiederholung von Enttäuschungen und sehe nur eine vage Aussicht auf eine dauerhafte Partnerschaft, geradezu als Verharmlosung (Verf. hier) einer grundlegenden Unfähigkeit.

Stattdessen ist es zur Hospitalisierung, i.S. einer permanenten Regression, gekommen, mehr war nicht erreichbar. Nur wegen besonders günstiger Umstände (Freundschaften, hohes Ansehen, Wohlhabenheit, keine sog. Propfschizophrenie, d.h. in Verbindung mit Schwachsinn) blieb ihm die Dauerunterbringung in einem Hospital erspart.  An seiner Symptomatik hat dies nicht gelegen, denn er hatte ja auch Tobsuchtsanfälle.

Er blieb in Maßen noch bis zuletzt produktiv. Die Tage gingen aber anscheinend mehr damit hin, dass er in seinem Zimmer laut seine eigenen Texte deklamierte oder Dialoge erfand, in denen die Antwort meistens stark verneinend war, wie B vielfach beschreibt.

H schrieb wohl den ganzen Tag noch Verse (B 232), von denen aber nur wenige auf uns übergekommen sind. Ein großer Teil soll vernichtet worden sein. Auch hat ihm die Familie Zimmer zeitweise kein Papier zu Schreiben gegeben, weil man die Folgen von geistiger Überanstrengung fürchtete.

Er hat andererseits jede Gelegenheit benutzt, ihm überlassenes Papier zu beschreiben (B 236). Viele Stunden verbrachte er auch am Klavier bzw. Spinett, das ihm die Familie Zimmer geschenkt hatte, sang auch teilweise dazu.

Sprach ihn jemand Auf Italienisch an, antwortete er sofort in dieser Sprache (B 230). Für die Annahme einer schizophrenen Echolalie ist dies aber nicht sicher ausreichend. Man kann natürlich auch hier Streben nach Distanz mit Hilfe gespielter Anpassung oder gar Gehorsamkeit sehen, aber ebenso gut auch das Gegenteil, nämlich Kontaktsuche (Verf.).

Die gekünstelten Titulierungen und das offensichtliche Ausweichen vor Gesprächen, und zwar in Richtung Musik und Gesang, werden üblicherweise ebenfalls als intendierte Kontaktvermeidung gesehen, doch sicher ist auch dies nicht. Jedenfalls lassen die Titulierungen eher an eine schizophrene Manieriertheit denken ohne solchen Zweck. Kontaktvermeidung lässt sich nämlich auch anders erzielen (Verf.). Man könnte übrigens auch ebenso gut Manieriertheit als Kontaktsuche verstehen, aber auch hier ist die Frage, warum dies ausgerechnet durch Titulierungen mit tiefen Verbeugungen vor den Angesprochenen geschehen soll (Verf.). Manierismen sind ein häufiges Symptom der Schizophrenie, und dies auch ohne derartige Zusammenhänge.

Die häufig zu hörenden Erklärungen sind oft selbst künstlich, herbeigeholt und gesucht. Erklärungen lassen sich immer finden bzw. zurechtzimmern, wenn man danach sucht, dies heißt aber nicht, dass sie den tatsächlichen inneren Ablauf und die Bedeutung für den Kranken selbst abbilden.

Das Gesamtbild kann aber auch die These von der letztlich biologisch angelegten Verursachung (nach Zerbin- Rüdin regelmäßig 1% einer jeden Bevölkerung, selbst in einem KZ nicht darüber hinaus vermehrt, ungeachtet, dass der Gesetzgeber in Entschädigungsverfahren anders entschied und jedem  in einem Lager schizophren Erkrankten Entschädigung zusprach, weil man den Anspruchsstellern nicht noch zumuten wollte, prozessieren zu müssen.) mit regelhaftem Verlauf stützen.

Kinder zweier schizophrener biologischer Eltern tragen immerhin ein Risiko von 40-60 %, selbst an Schizophrenie zu erkranken (Häfner in Huber 280)

Auch von verbalen und nonverbalen (Körperhaltung, Gang, Gebärde, Gesichtsausdruck, Stimmmodulation) Fertigkeiten, sich mitzuteilen, ist nichts oder nur wenig erkennbar. Die Minussymptomatik, (überhaupt der ganze soziale Rückzug), die freilich auch als verfestigte Abwehr gegen die Angst, ungünstig aufzufallen, etwa durch Wahn, Halluzinationen und besonders durch die Denkstörung, verstanden werden kann, ist es, die den chronischen Zustand nach der floriden Episode beschreibt.

H verblieb offenbar im asthenischen Basisstadium einer schizophrenen Psychose ohne weitere Progredienz, nicht ohne Chance der Ausheilung, die an sich häufig zu beobachten ist. Die Unterbringung bei der Familie Zimmer lässt auch den Gedanken an eine Bahnung seines Erlebnisfeldes und seiner Reaktionen aufkommen, sodass Minimalanlässe heftige Reaktionen wie Wut auslösen können,-  neben dem Gesichtspunkt, dass H. dort eine-  relative- Überforderung erspart blieb, - schon weil die Handwerkerfamilie, wenngleich Zimmer hochgebildet war, mit ihm nicht auf seinem intellektuellen Niveau konkurrieren konnte und es deshalb auch nicht zu einer geistigen Überforderung Hs kam.

 Auch eine andere Überforderung blieb H erspart, nämlich eine, die durch unharmonische Familienverhältnisse mit deren aberranten, ambivalenten Denk- und Verhaltensstilen (Janzarik in Huber S.237), aber auch durch andere intensive emotionale Erfahrungen wie Liebesbeziehungen oder Spannungen auf einer Krankenstation mit anderen Patienten, Pflegern und Schwestern hätte drohen können.

Erspart blieb ihm auch, besondere Abwehrmaßnahmen gegen solche Belastungen zu entwickeln, etwa durch eine totale Abschirmung (Abwehr in Form von Vermeidung) gegen solche Einflüsse, etwa durch extreme Scheu, demonstrierte Gefühlsarmut oder erschreckendes, abstoßendes Verhalten.                                                                                                                                                                                                                                                                                          

Es entspricht der Erfahrung bei schizophrenen Psychosen, dass der Lebensweg nicht da wieder aufgenommen werden kann, wo seine Kontinuität ausgesetzt hatte (Janzarik in Huber 234).

Fußnote: Im April 1812 erkrankte H an einem fieberhaften Infekt mit Schwitzen, Durst, Durchfällen und einem Ausschlag am Mund (S 162). Dieser kann zu einer Besserung seiner Psychose geführt haben, wenn auch eine Defektbildung stattgefunden hatte. Künstlich erzeugtes Fieber wurde ja bis ca. 1960 als Therapie eingesetzt. Insulinbehandlung und Elektrokrampfbehandlung waren damals noch nicht bekannt, auch nicht die mit Neuroleptika.

Er war aber zu großartigen Gedichten weiterhin in der Lage (so 1811, B 218, 1812 B S 163, 1828 B 167- 168 , April 1843 B 220 das  Gedicht über den Zeitgeist, ad hoc verfasst), zeigte sich allerdings in dieser Hinsicht als lustlos, und er war offensichtlich nicht mehr in der Lage, längere Zeit an Gedichten zu arbeiten, -mangelndes Durchhaltevermögen, auf jeden Fall im Vergleich zu früher. Hier zeigt sich die Defektpsychose bzw. der Defekt in einer Psychose, wenn auch nach B immerhin noch 50 Gedichte aus dem Turm überkommen sind und man ihm oft kein Papier gab, weil man dachte, geistige Aktivität würde ihm schaden.

Typisch sind neben dem „totalen Mangel an Teilnahme und Interesse für das, was außerhalb von ihm vorgeht (B 188) auch die Fluktuationen im Befinden und im Verhalten, oft von Minute zu Minute, bei geringsten Anlässen oder ohne fassbare Anlässe, so in Form plötzlicher, uneinfühlbarer Wutanfälle, die Zimmer beschrieben hat.

Die Familie Zimmer hat eine regelhafte Versorgung gewährleistet, die H einen reizarmen, sein Vermeidungs- und Rückzugsverhalten tolerierenden Rahmen bot.

Die Rezeption durch B ist durch seine Berufsfremdheit zu erklären. Er war Germanist, im Zivilberuf hoher Polizeioffizier, kein Psychiater. Namentlich war er offensichtlich auch nicht mit der speziellen deutschen Psychiatrie, aber auch nicht mit der japanischen, französischen, der italienischen oder einer anderen, vertraut.

Auch Literaturwissenschaftlern, Dichtern, Historikern, Soziologen, Philosophen, Regisseuren und selbst gelernten Psychoanalytikern können psychiatrische Befunde entgehen, wenn sie keine Psychosen und keine Therapien an Psychotikern aus eigener Erfahrung kennen und auch eine evtl. hirnorganische Verursachung nicht ins Kalkül ziehen können.

Oft treten Intellektualisierung und Rationalisierung (Scheinbegründungen, Ausflüchte) an die Stelle von Beobachtung, Sachkenntnis und richtiger Einordnung in das bekannte Krankheitsbild, weil man es schwer hat, die psychiatrischen Symptome zu kennen und zu erkennen, vor allem auch nicht deren Häufung zu Syndromen.

Diese Erschwernis wird nicht dadurch ausgeglichen, dass auch unter Psychiatern Schizophrenie verschieden aufgefasst werden kann, vor allem auch beim gleichen Patienten, aber zu unterschiedlichen Zeitpunkten und in unterschiedlichen Situationen, weil die Gestörtheit von Minute zu Minute schwanken kann („ständige Fluktuation“, Süllwold in Huber 143).

Man kann sich grundsätzlich nicht auf Unklarheiten oder Uneinigkeit bei den Argumentationsgegnern berufen, um die eigene Position zu begründen und um die erdrückende Beweislast zu verleugnen. Diese schwere Erkrankung leugnen kann nur jemand, der nicht tagtäglich mit ihr zu tun hat.

Hinderlich war vor auch die Auffassung, dass diese Krankheit immer weiter progredient verlaufen müsse, wie auch B (241) fälschlich meint.

Im Gegenteil weiß man heute, dass sich meistens vom 5.   bis zum 10. Krankheitsjahr eine spontane Besserung zeigt (Huber 111), wenn es nicht in den ersten drei Jahren zu einer „schizophrenen Katastrophe“ (F. Mauz, zit. n. Huber 111) mit Zerfall der Persönlichkeit gekommen ist.  

Nur der „reine Defekt“ ist beständig (Huber 111).

Hs spätes Stadium der Erkrankung in seinen letzten Jahrzehnten dürfte psychiatrisch mindestens als Strukturverformung ohne Psychose, etwa zur Gruppe der postschizophrenen Sonderlinge gehörend, einzuordnen sein.

Bs geradezu kriminalistische, wohl auch beruflich eingeübte Rekonstruktionsversuche über das Leben Hs sowie seine umfangreichen Ausführungen über Literatur machen den letzten Teil seines Buches aus, können jedoch nichts zu der Frage der Erkrankung Hs beitragen.

Was psychiatrisch fehlt, ist allerdings der eindeutige Nachweis von Wahn, einem Zentralsymptom (Beeinträchtigungswahn, Verfolgungswahn, Liebeswahn, Größenwahn, Wahnstimmung). Wahrscheinlich gehörte H zu den vielen Schizophrenen, die ihren Wahn konsequent verheimlichen, um nicht aufzufallen, aber diesen womöglich wie in einem Privatgarten hegen und pflegen und weitersystematisieren. Sie haben die „doppelte Buchführung“ erlernt und bis zur Alltagsroutine, bis zur Dissimulation, eingeübt (s. dazu der berühmte Fall Wagner 1913, Gutachter Prof. Gaupp, der an einer Unterform, der sog. Paranoia, ohne Denkstörungen litt).

Wahnsymptome, die der psychotischen Depression zuzuordnen sind, wie Verarmungswahn, Krankheitswahn, Versündigungswahn, Schuldwahn, religiöser Wahn sind nicht aufgetreten. Der „Zeiger der Schuld“ zeigt nicht auf ihn selbst wie bei Endogen- Depressiven.

Auch keine Hinweise auf die Leonhardschen Angst- Glückspsychosen, namentlich auch kein phasischer Verlauf.

Es ergibt sich auch kein Anhalt für eine Abwehrfunktion der defekten Ichstruktur gegen einen intrapersonellen Primärkonflikt (Häfner).

Seinen Tobsuchtsanfällen könnten kurzdauernde, rasch völlig abklingende. sog. Emotions-Psychosen zugrunde liegen, allerdings ist hierzu zu wenig bekannt, insbesondere, ob sein Erlebnisfeld von halluzinativem Material überflutet wurde. Er hat nichts Derartiges geäußert bzw. es ist nicht Derartiges überliefert. Auch haben sich danach jeweils keine eigenweltlichen erkennbaren Gefüge mit einer Eigendynamik durchgesetzt.

Eine persistierende Halluzinose hätte H nicht verbergen können.

Wieweit es im Hyperion und in seiner Beziehung zu Susette Gontard um einen Liebeswahn gehandelt haben könnte und wieweit dort Denkzerfahrenheit sichtbar wird, ist nie untersucht worden. Wahn kann nicht an Dichtung diagnostiziert werden, auch Denkstörung wohl kaum.

Kein Psychiater wird das Risiko eingehen wollen, sich eines Sakrilegs schuldig zu machen bzw.  dessen beschuldigt und lächerlich gemacht zu werden.

Größenwahn ist immerhin in den Anredeformalitäten implizit enthalten.

Möglich erscheint, dass H unter seinen (und fremden!) hochgespannten Erwartungen an sich selbst, unbedingt ein großer Dichter werden zu wollen, es zunächst - trotz wahrscheinlich vorauslaufender Defizienz, was jedoch immer schwer nachweisbar ist - zu hohen Leistungen brachte und so Schwächen seiner emotionalen Bindungsfähigkeit überspielen konnte, dass er aber schließlich nicht mehr zu einer Selbstbescheidung auf einem anspruchsloseren Niveau zurückfand, die seinem postpsychotischen Zustand der psychischen Insuffizienz gerecht geworden wäre.

Dies erschwerte es H zusätzlich, sich auf einem einfacheren Arbeitsniveau zu betätigen und so ein gesundes Selbstvertrauen zu entwickeln.

Allerdings war ihm der Weg zurück zum Hauslehrer und Haushofmeister versperrt, da er darin mehrfach gescheitert war (1794, 1798, 1801, 1902), auch eine körperliche Tätigkeit kam nicht in Frage, denn dafür war er zu alt und zu angesehen, also auch aus Statusgründen nicht vermittelbar, es sei denn, man hätte ihn „herunterrehabilitiert“, - weiter hinauf ging es ohnehin nicht.

Auch heute wäre man mit dem Rehabilitationslatein wohl am Ende, höchsten ein Übergangsheim mit betreutem Wohnen käme noch in Frage, wenn eine private Versorgung wie bei Zimmer enden sollte.

Im Grunde war H zuletzt bereits dissozial, was nur nicht auffiel, da er genügend Mittel hatte, für sich selbst aufzukommen, und gut versorgt war.

H wurde an falscher Front „verteidigt“. Seine Psychose aus dem schizophrenen Formenkreis kann seiner poetischen Leistung keinen Abbruch tun.

Die Sektion des Gehirns ergab übrigens keine Abweichungen von Belang (B 238).

Seine tiefgehenden Freundschaften zu Männern (Stäudlin, Magenau, Neuffer, Hegel, Niethammer, Schelling, Schiller, Goethe, Sinclair, Landauer, Waiblinger,  Gok (Stiefvater sowie Bruder), Uhland, Schwab und wie auch zu Frauen neben seiner Mutter Charlotte von Kalb, Louise Nast, Wilhelmine Kirms (eine „Affäre“, aus der er immerhin eine Tochter hatte) zeigen, dass er nicht sehr gefühlsarm gewesen sein kann, wenigstens nicht durchgehend. Denn Beziehungen sind keine Einbahnstraßen.

In seinen Beziehungen zu Männern eine „latente“ Homosexualität zu sehen, ist durch nichts belegt, vielmehr nur routinemäßig behauptet, weil man in falschem, aber immer noch öffentlichkeitswirksamem Verständnis von Psychoanalyse beflissen nach Sexualität sucht.

Es ist immer das gleiche Spiel: Ist eine Homosexualität nicht nachweisbar, steht schon eine „latente“ bereit, die Lücke flink zu füllen. Ebensowenig sind seine Beziehungen zu Frauen als Abwehr von Homosexualität zu verstehen. Solches wird formelhaft behauptet, ohne eigene Überprüfung und Beurteilung, auch ohne zu erkennen, dass Routinehaftigkeit der Feind der Psychoanalyse ist, und ohne daran zu denken, dass solche Behauptungen von „Latenz“ hier nicht falsifizierbar, somit unwissenschaftlich sind.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Zum Schluss soll Hölderlin allein zu Wort kommen:

„Das Angenehme dieser Welt hab` ich genossen/Die Jugendstunden sind, wie lang! wie lang!  Verflossen
April und Mai und Julius sind ferne / Ich bin nichts mehr, ich lebe nicht mehr gerne“. (ca. 1839, zit.n. I. Joppien, S. 198) (Man kann hier wohl die (Selbst)-Wahrnehmung seines Defekts erahnen).

„Der Sommer

Die Tage gehen vorbei mit sanfter Lüfte Rauschen / Wenn mit der Wolke sie der Felder Pracht vertauschen / Des Tales Ende trifft der Berge Dämmerungen / Dort, wo des Stromes Wellen sich hinabgeschlungen“.

„Die Linien des Lebens sind verschieden / Wie Wege sind und wie der Berge Gränzen/ Was hier wir sind, kann dort ein Gott ergänzen / Mit Harmonien und ewigem Lohn und Frieden“. (1812, s.o.)


 

 

Im April und Mai 2020

 

 

 

 

 

 

 

 

Zu dem nachfolgenden Ölgemälde:

Es mag die geistige Zerrüttung Hölderlins darstellen, aber zugleich seine Größe, die auch im Untergang noch überragend ist, auch seine plötzlichen Wutanfälle und seine immer noch nicht versiegte schöpferische Energie.

„Dem Hölderlin sein Turm“                           Von Edgar Krill, Mai 2020

 

 

 

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